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Die Erinnerungen des Ehrenvorsitzenden der bucharischen Gemeinde in Hannover (Deutschland) Mikhail Davydov

 Die Erinnerungen des Ehrenvorsitzenden der bucharischen Gemeinde in Hannover (Deutschland) Mikhail Davydov

Ich, Mikhail Davydov, wurde am 27. Mai 1941 in der Stadt Shahrisabz, Usbekistan, in die Familie von Isaak Davydov (1900-1972) und Efertoar Ishakova-Davydova (1907-1979) hineingeboren.

Ich beginne meine Familiengeschichte mit der Beschreibung des Lebens meines Großvaters väterlicherseits. Mein Großvater Shamaya (1868-1973), Sohn von Davidboi Urgenzhi und Norak, kam mit seiner Familie nach Shahrisabz noch vor der Oktoberrevolution. Durch den Handel mit Schnittwaren wurde er zu einer der reichsten Menschen der Stadt. Später übernahm er den Vorsitz der großen bucharischen Gemeinde von Shahrisabz, die damals etwa 500 Familien zählte.

Meine Großmutter, Saviya Davydova (1873-1962), war Medizinerin. In ihr Leben, das sie mit Shamaya teilte, kamen 20 Kinder hinzu, von denen jedoch nur sechs überlebten: vier Söhne und zwei Töchter. Shamaya war bekannt als Aksakal und Kalontar.

Nach der Revolution von 1917 begannen schwierige Zeiten. Basmatschi-Banditen kamen in die Synagoge und stellten ein Ultimatum: „Wenn ihr noch leben wollt, dann beschafft uns 1000 Goldmünzen; wir kehren in einer Woche wieder und, falls die geforderte Summe nicht beschafft worden ist, werdet ihr alle ausgerottet!“. Die Basmatschi verschwanden und Shamaya erzählte allen Juden von der Forderung der Banditen. Die Gemeindemitglieder konnten zwar nur die Hälfte der Summe beschaffen, doch den Rest fügte Shamaya selbst hinzu und unser Volk wurde gerettet.

In der Nähe der Synagoge gab es einige Wohnungen, in denen bedürftige Leute mit ihren Familien lebten. Mein Großvater unterstützte sie immer und half ihnen materiell, wofür sie ihm sehr dankbar waren.

Seine Eltern, also mein Urgroßvater Davidboi Urgenzhi mit seiner Frau, wanderten zusammen mit zwei Söhnen, Miär und Elchonon, vor der Revolution trotz großer Hürden nach Jerusalem aus. Sie lebten mehrere Jahre im Stadtteil Schuchunat Bucharim. Großvater Davidboi Urgenzhi und Großmutter Norak starben im Jahr 1914. Sie wurden in Jerusalem auf dem Ölberg beerdigt.

Mein Großvater tat sehr viel für seine Leute. Im Alter von 104 Jahren ging er zu Fuß mit seinem Krückstock zur Synagoge und war das älteste und am meisten respektierte Mitglied der Gemeinde.

Ein wenig über mich…

Meine Eltern hatten 9 Kinder: zwei Töchter und sieben Söhne. Der älteste Sohn Jakob fiel 1943 im Zweiten Weltkrieg. Heute leben von uns nur noch zwei.

Ich besuchte von 1947 bis 1957 eine Schule, in der auf bucharisch-tadschikischer Sprache unterrichtet wurde. Nach dem Erhalt meines Abschlusses machte ich eine Ausbildung im Bereich der Kinematographie im Technikum der Stadt Taschkent. Nachdem ich das Technikum absolviert hatte, kehrte ich zurück und arbeitete als technischer Leiter im Breitbildkino. Im Jahr 1966 wurde mir der Titel „Hervorragender Kulturarbeiter der Sowjetunion“ verliehen.

Im August heiratete ich die wunderschöne junge Frau Riva Dschuraeva-Davydova, die Tochter von Matat Dschuraev (1901-1947) und Brahi Aminova (1910-2001). Riva machte nach dem Abschluss der 10. Schulklasse eine Ausbildung im medizinischen Technikum, bevor sie später als Krankenschwester in der Klink von Schahrisabz arbeitete. Ich habe sechs Kinder mit ihr: vier Söhne und zwei Töchter.

Am Anfang des Jahres 1970 sind wir mit der gesamten Familie in die Stadt Frunse (heute: Bischkek) gezogen. Der Anfang war für uns sehr schwer. Zum Glück nahmen wir schnell Kontakt mit unseren Verwandten auf. Damals unterstützten uns Shamoel Ishakov und seine Kinder Aron, Jora, Lisa, Uriel sowie die Familien Oranbaev und Rihav, mit denen wir danach unzertrennliche Freunde geworden sind. Und noch mehr Menschen unterstützten uns in der Stadt Frunse. Ich ging immer in die Synagoge. Zwei Jahre lang war ich Gemeindevorsitzender und Schatzmeister unter Rabbi Immanuel Kandinov.

Es waren die besten Jahre unseres Lebens. Unsere Kinder heirateten. Und, so wollte das Schicksal, ist unsere ganze große Familie (über 20 Mitglieder) nach Deutschland, genauer in die Stadt Hannover, emigriert. Der Initiator dieses Umzugs war Wolodya Baibatschaev, der mich zusammen mit meinen Kindern, Arkadiy und Dima, empfing. Es war ein unvergesslicher Tag!

Wolodya und andere halfen uns hier einzurichten. Er kam oft zu uns. Er gab uns gute nützliche Ratschläge.

Ich erfuhr, wo die Synagoge stand, und wir fuhren mit meiner Frau dorthin. Die Gemeindemitglieder unterhielten sich gerne mit uns und natürlich unterschieden wir uns von den aschkenasischen Juden. Sie kannten die bucharischen Juden vorher nicht. Im Laufe der Zeit haben sich nahe freundschaftliche Beziehungen mit dem Herrn Litvan und anderen Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde Hannover entstanden. Schon nach einem Jahr wurde ich zum Vorstandsmitglied der Gemeinde gewählt.

Acht Jahre lang war ich Vorstandsmitglied der Gemeinde. Vor mir stand eine große Aufgabe: die Gründung einer eigenen bucharisch-jüdischen Gemeinde. Später stellte uns Hannovers orthodoxe Synagoge einen Raum eines ehemaligen Kindergartens, um da ein Kulturzentrum einzurichten, sowie einen kleinen Saal für die Gebete zur Verfügung. Beide Räume waren im heruntergekommenen Zustand vorzufinden und erforderten eine Sanierung. Diese Sanierung wurde von den Gemeindemitgliedern durchgeführt. Im Jahr 2002 wurde in Hannover Deutschlands erste bucharisch-jüdische Gemeinde angemeldet. Am Ende desselben Jahres erhielten wir von den Sponsoren aus Wien, den Herren Boris Yusupov und Beni Motaev, Torah- und Haftaraschriftrollen. Das war für die ganze Gemeinde ein Riesenfest.

Diese Schenkung gab uns neue Kräfte und motivierte uns für den weiteren Fortschritt. Es wurden zur Gemeinde gehörende Organisationen gegründet: der Ältestenrat, der Frauenrat, das Jugendzentrum, der soziale Dienst und andere.

Der 9. September 2009 – ein historischer Tag für uns, denn das erste (und noch Deutschlands einzige) jüdisch-bucharisch-sefardische Kultur- und Religionszentrum und die Synagoge wurden eröffnet! An der feierlichen Zeremonie zur Eröffnung des Zentrums nahmen Repräsentanten von religiösen Organisationen sowie von Vereinen und auch Gäste aus anderen Ländern teil.

Aber mit der Zeit wurde es der Gemeinde in den damaligen vier Wänden zu eng. Doch dann, endlich, fanden wir durch G’ttes Hilfe ein großes Grundstück mit Gebäuden mitten in der Innenstadt. Schon im Jahre 2012 wurde da das Zentrum für alle bucharische Juden Deutschlands gegründet. Es wurde eine kolossale Sanierung und Einrichtung der Synagoge, die zu Recht als eine der schönsten Deutschlands bezeichnet wird, eingeleitet.

Und selbstverständlich unterstützten uns alle Mitglieder unserer Gemeinde sowie der Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen und unsere Freunde aus Israel und Wien und sie halfen uns bei der Sanierung und beim Einrichten. Und siehe da! Am 6. Juni 2013 wurde das Zentrum bucharischer Juden Deutschlands festlich eröffnet. Über 300 Gäste aus Deutschland, Österreich, den USA und Israel empfingen wir als Gastgeber. Am gleichen Tag erhielt die Gemeinde zwei zusätzliche Torahschriftrollen als Geschenk. Viele warme Worte und Wünsche ließen uns die Gäste der Feier wissen. Nach dem offiziellen Teil trugen die Repräsentanten der Gemeinde die Torahschriftrollen hinaus zum Hof, während sie unter Volksmusik tanzten, und dann trugen sie sie um das Gebäude in musikalischer Begleitung und mit applaudierenden Gästen.

Es entstanden sehr enge freundschaftliche Beziehungen mit allen jüdischen Gemeinden Deutschlands, Österreichs, Israels und der USA.

Heute stehen uns Aufgaben zur Errichtung eines Kindergartens, einer Mikwe und eines Festsaals bevor.

Im Jahr 2016, nach knapp 20 Jahren Leitung, legte ich aus Altersgründen mein Amt als Gemeindevorsitzender nieder. Ich bin den Vorstandsmitgliedern dankbar, mit denen wir diesen steinigen Weg gegangen sind. Und so weit es geht nehme ich als Ehrenvorsitzender am Gemeindeleben teil und ich werde auch in Zukunft am Gemeindeleben teilnehmen.

 

Donnerstag, 30. Januar 2020